pleyenfeld-blues

 

 

eine geschichte von helmut lederer

 

 

 

 

 

 

 

erste Strophe:

 

 

 

 

Er fährt durch den Nebel. Müde, schlecht gelaunt, nicht freiwillig. Seine Firma hat ihn hier her geschickt, ans Ende der Welt, kurz vor der russischen Grenze, wie er gesagt hat. Es sei wichtig, haben sie gesagt, er sei der richtige Mann dafür. Natürlich, er ist immer der Richtige, aber das wissen die Anderen doch gar nicht. Tatsache ist, es hat kein anderer fahren wollen.

 

Und jetzt sitzt Thorwald schon früh am Morgen in seinem dunkelblauen Mercedes 450, wenigstens da fühlt er sich zu Hause, und fährt Richtung Osten. Dieses Kaff liegt tief im Bayrischen Wald, dort wo es keine Autobahnen, keine Bahnhöfe und schon erst recht keine Flughäfen gibt.  Deswegen fährt er mit dem Wagen, gut, die Kilometer kann er abrechnen, aber wer zahlt ihm die Zeit? Und die Nerven? Diese Lkws sind bei diesem Nebel erst im letzten Moment zu sehen. Und alle fahren wie die Henker, vermutlich nach Polen oder in die Tschechei. Tschechien heißt das jetzt wohl, überlegt er.

 

Wie kann man ein Seminar-Center hier in diese Gegend bauen? Ist wohl so ein Landschulheim. Die hat man früher extra so weit abgelegen gebaut, damit die Schüler nicht den Verlockungen der Großstadt anheim fallen. Und heute sollen die Manager nicht abgelenkt werden. Zusammenführung von Natur und Bussinnes. Dabei haben die Manager doch gar nicht die Zeit für diesen weiten Weg.  Aber vielleicht ist das ja Absicht und das Seminar beginnt bereits mit der Fahrt dorthin. Sicher kontrollieren sie bei der Ankunft, ob wir pünktlich sind, genervt oder ausgeruht.

 

Thorwald nimmt sich vor, sich nichts anmerken zu lassen. Sein Jackett hängt am Haken über dem Rücksitz, es wird also nicht zerknittert sein, wenn er dort aussteigt. Das weiße Hemd ist frisch gebügelt und gestärkt. Seine Haushaltshilfe, die zwei mal wöchentlich kommt, hat sich darum gekümmert. Seit seine Frau ihn verlassen hat, lebt er, inzwischen geschieden, alleine in einer Vier-Zimmer-Wohnung in München. Bei der Ankunft wird er wie aus dem Ei gepellt aussehen und er wird lächeln. So ein dynamisches überlegenes Lächeln, wie er es auf einem sogenannten Erfolgsseminar gelernt hat.

 

Die Autobahn hat er längst verlassen, die stark frequentierte, weil direkt zur Grenze führende Landstraße verschwindet vor seinen Augen im Nebel oder in den Wasserfontänen vorausfahrender Lastwagen. Er muss aufpassen, dass er die abzweigende Straße nicht verpasst, denn der Ort Pleyenfeld, den er vorher kaum auf der Landkarte gefunden hat, liegt etwas abseits. Er lacht: Nicht nur am Ende der Welt, sondern auch noch abseits davon. Oder möglicherweise sogar noch dahinter. Plötzlich taucht vor ihm der Wegweiser auf, er bremst, hinter ihm ertönt die gewaltige Hupe eines Lastwagens und knapp vor einem entgegenkommenden Fahrzeug lenkt er seinen Mercedes in die Seitenstraße. Sie ist eng, der Asphalt ist voller Schlamm von Traktoren, aber es ist wenigstens kein Verkehr mehr. Geschafft, denkt er, denn jetzt ist es nicht mehr weit. Nach etwa 10 Kilometern sieht er das Dorf in einem Tal links von der Straße liegen, farblich kaum zu unterscheiden von den umgebenden Feldern und dem Wald, der gleich dahinter beginnt. Das Seminarzentrum liegt etwas außerhalb des Dorfes am Waldrand. Langsam fährt er auf der Zufahrtsstraße den kleinen Hügel hinauf. Es liegt schon etwas Schnee hier oben.

 

Thorwald hat seinen Wagen auf dem Parkplatz abgestellt, zwischen anderen Mercedes, Audis und BMWs mit Kennzeichen aus ganz Süddeutschland. Seine Jacke hat er angezogen, den schwarzen Aktenkoffer, in welchem sich Akten, Papiere und das Laptop befinden, hat er in der rechten Hand, die Reisetasche in der linken und den Mantel über der Schulter. So steht er an der Rezeption hinter einigen anderen Männern in der gleichen Uniformität. Es ist eine Übernachtung vorgesehen. Ein Handy klingelt, nicht seines, wie er an dem dämlichen Klingelton sofort erkennt. Er hat unter den Anwesenden noch kein bekanntes Gesicht gesehen. Die meisten der Männer sind jünger als er, aufstrebende Jungmanager. Die Kollegen, die er noch von früheren Seminaren kennt, werden bei solchen Veranstaltungen immer seltener. Entweder sie sind bereits darüber hinaus aufgestiegen, oder sie sind längst arbeitslos, oder haben die Firma gewechselt.

 

Er bekommt sein Zimmer zugewiesen. Nobel eingerichtet, mit TV, Bar und großem Bad. Er drückt kurz auf die Federung des Bettes, hängt seinen Mantel an die Garderobe und stellt die Reisetasche in den Schrank. Dann tritt er ans Fenster und schaut hinaus auf den nebligen verschneiten Acker. Seine schwarzen, zum dunkelgrauen Anzug passenden Schuhe, wischt er kurz mit der Übergardine sauber, kämmt sich schnell das Haar und macht sich, den Aktenkoffer in der Hand, wieder auf den Weg nach unten. In einer halben Stunde soll das Seminar beginnen. Es geht um Datenschutz und neue Kommunikationstechniken, die im in ganz Süddeutschland ansässigen Konzern eingeführt werden sollen.

 

Im Restaurant ist ein kleiner Imbiss gerichtet, die Männer stehen herum, Kaffeetassen in der Hand, die Aktenkoffer liegen auf Tischen, aufgeklappt wie kleine tragbare Altäre oder stehen eng bei Fuß, wie artige Schäferhunde. Auch zwei Frauen sind anwesend, wirken aber wie Fremdkörper. Wie Frauen bei der Bundeswehr, denkt er kurz, als er sich einen Kaffee einschenkt. Er kennt tatsächlich keinen der Anwesenden, was sicher an den neuen Kommunikationstechniken liegt, um die es hier gehen soll. Man kennt sich halt nicht mehr persönlich und die neuen Methoden erfordern auch neue Mitarbeiter. Eine dritte Frau kommt herein, die sich ihren Auftritt sicher absichtlich bis zuletzt aufgespart hat, wohl ebenfalls gelernt in einem Erfolgsseminar. Alle schauen zu ihr hin. Auch Thorwald, während er mit einem unbekannten Kollegen small-talk über die weite Anfahrt und die schlechten Straßen führt.

 

Der Seminarleiter tritt auf. Und es ist ein Auftritt, denkt Thorwald, noch dynamischer als alle anderen, weil zwar mit Krawatte, doch ohne Jackett und die Ärmel umgeschlagen, und vor allem so präsent, dass jeder sofort seine Anwesenheit mitbekommt und sich nach ihm umdreht. Nur die zuletzt gekommene Frau nicht, sie schenkt sich gerade einen Kaffee ein und straft ihn durch nicht hinschauen, was er selbstverständlich sofort registriert. Wir haben alle alles gelernt, denkt Thorwald und folgt den anderen in den Seminarraum.

 

 

 

 

 

 

zweite Strophe

 

 

 

 

Zigarettenpause am späten Vormittag. Die Köpfe rauchen, die Laptops brummen leise vor sich hin. Die Jacken hängen über den Stuhllehnen, Gläser und Wasserflaschen stehen zwischen Papieren auf dem Tisch. Umgefallene Namensschilder mit Namen, die keiner kennt und keinen interessieren. Nur beiläufig schaut Thorwald auf das Namensschild der zuletzt gekommenen Frau. Astrid Sager heißt sie, doch sie sagt mehr durch Gesten als durch Worte. Einige Männer stehen rauchend auf der Terrasse, obwohl es recht kalt ist. Einige, auch die Frauen, holen sich Kaffee und diskutieren die letzten Informationen. Astrid Sager spricht mit dem Seminarleiter. Thorwald hat das alles schon hundert mal erlebt. Er holt sich auch einen Kaffee und taxiert den eleganten Hosenanzug, den Frau Sager trägt. Sie unterscheidet sich darin kaum von den Männern, nur dass bei ihr die Figur besser betont wird. Auch die Krawatte fehlt nicht, sogar die Haare sind kurz, der Blick sachlich. Sie hat es sicher nicht leicht mit den Kollegen in ihrer Abteilung. Frauen müssen bei gleicher Eignung härter sein und rücksichtsloser.

 

In der Mittagspause wiederholt sich das Spiel. Rauchende Männer auf der Terrasse, Kaffe trinkende Männer und Frauen im Restaurant, wo bereits die Tische gedeckt sind. Astrid Sager ist wohl auf ihr Zimmer gegangen, denn Thorwald kann sie nirgends sehen. Auch der Seminarleiter ist nicht mehr da. Der Kollege aus Nürnberg, dessen Schild sagt, dass er Schiller heißt, hängt schon seit dem Morgen an Thorwald und versucht ihn in neue Theorien zu verwickeln. Natürlich wird er auch beim Essen neben ihm sitzen. Arbeitsessen nennt man so was wohl. Stimmengemurmel, Tellergeklapper. Einer fuchtelt mit Messer und Gabel in den Händen herum wie ein Dirigent, während er redet, ein anderer schaufelt still alles in sich hinein. Sie sind  ihm fremd und doch kennt Thorwald sie alle. Die Personen sind immer andere, aber die Typen wiederholen sich. „Wie meinen sie das?“ fragt Schiller. Er muss wohl laut gesprochen haben. „Nur so.“ Er isst weiter. Astrid Sager kommt wieder als letzte. Natürlich sitzt sie beim Seminarleiter am Tisch, zusammen mit einer weiteren Frau und der am lautesten redenden jugendlichen Halbglatze aus Stuttgart. Der Schweigsame schabt  schon den Teller ab und wartet auf den Nachtisch. Schiller ist inzwischen bei der vierten möglichen Theorie angekommen, seine Schweinelende ist  kalt geworden. Thorwald ist längst zur Regungslosigkeit erstarrt.

 

Nach dem Essen zieht Thorwald sich auf sein Zimmer zurück. Schiller, der ihn mit der inzwischen sechsten Theorie bis vor die Tür verfolgt hat, hat er diese vor der Nase zugeschlagen. Er nimmt sich aus der Bar ein Bier und legt sich mit den Schuhen aufs Bett. Nur das Jackett hat er vorher ordentlich über einen Stuhl gehängt. Er starrt zur Decke.

 

Nach der Mittagspause das gleiche Spiel wie am Vormittag. Der Overhead-Projektor wirft Texte und Skizzen von Folien an die Leinwand, andere Details werden direkt auf die Laptops, von denen jeder eines vor sich stehen hat, überspielt. Es wird geredet und geschwiegen, laut und leise, diskutiert, polemisiert, argumentiert, illustriert und notiert. Es wird gescherzt, wenig gelacht, Gläser klimpern, Wasser plätschert hinein, so als würde jemand in der Ecke stehen und urinieren. Thorwald, der mit dem Blick zum Fenster an dem langen Konferenztisch sitzt, schaut hinaus und beobachtet, wie der Nebel immer dichter wird. Eine dünne Schneeauflage befindet sich auf den kahlen Feldern. Auf einem Weg sieht er zwei Reiter langsam davon reiten. Neben ihnen erhebt sich schemenhaft der Mast einer Überlandstromleitung aus dem Nebel.

 

Nachmittags Kaffe und Kuchen, wieder Zigaretten auf der Terrasse. Thorwald hat schon vor Jahren damit aufgehört. Er holt sich einen Kaffee. Der Stille schaufelt gerade einen Apfelkuchen in sich hinein und Schiller kommt strahlend auf ihn zu. Er hat eine neue Theorie, denkt Thorwald und geht zur Toilette. Schiller folgt ihm. Aus der Nachbarkabine erzählt er seine Überlegungen. Thorwald verlässt seine Kabine lautlos und ohne die Wasserspülung zu betätigen. Er hört Schiller noch reden, als sich die Toilettentür hinter ihm schließt. Beim Pissen musst du sie erwischen, denkt Thorwald, da sind sie am verletzlichsten, beim Pissen und beim Scheißen.

 

Im Gang kommt ihm Astrid Sager entgegen und lächelt ihn im vorbeigehen an. Mein Gott, denkt Thorwald entsetzt, sie kann lächeln. Er folgt ihr zurück in den Seminarraum, den Blick auf ihren wohlgeformten Hintern gerichtet. Als alle längst Platz genommen haben, betritt Schiller den Raum, freilich ohne Thorwald eines Blickes zu würdigen. Der Seminarleiter wirkt müde und erschöpft. Immer wieder erteilt er das Wort anderen, um dann selbst desinteressiert in irgendwelchen Papieren zu blättern oder aus dem Fenster zu schauen. Schiller ergreift die Gelegenheit um seine Theorien allen mitzuteilen, doch außer dem Stillen scheint ihm kaum jemand zuzuhören und der sagt nichts. Die anderen flüstern untereinander, Astrid Sager macht dem Stuttgarter Glatzkopf schöne Augen, die beiden anderen Frauen, die nebeneinander ganz vorne sitzen und sich dadurch deutlich von der Sager abgrenzen, tuscheln kichernd miteinander.

 

Die beiden Reiter auf dem Feldweg sind längst verschwunden, Thorwald versucht vergeblich ihnen mit seinem Blick zu folgen. Der Hochspannungsmast hat sich im Nebel und in der Dämmerung aufgelöst. Das Stimmengemurmel im Saal wird monotoner, die einzelnen Laute lösen sich von den Worten, vermischen sich zu einem undefinierbaren Singsang und Thorwald fallen die Augen zu.

 

Draußen ist es dunkel geworden, die Luft im Seminarraum ist abgestanden. Thorwalds Kopf ist nach vorne auf die Brust gesunken, ein anderer hängt weit nach unten gerutscht in seinem Stuhl, den Kopf im Nacken, die Augen zur Decke gerichtet und den Mund leicht offen, so als sei er gerade gestorben. Einer reinigt sich mit einem Schweizer Offiziersmesser die Fingernägel, der Seminarleiter sortiert immer wieder die gleichen Papiere, packt sie zum dritten mal bereits zusammen, die Frauen tuscheln, Astrid Sager schiebt sich einen Träger ihres BHs unter dem Hemd zurecht, der Stille hört aufmerksam zu, sieht aber so aus, als verstehe er kein Wort und Schiller redet. Erst als Thorwald krachend nach vorne auf den Tisch fällt, stockt Schiller in seinem Redeschwall. Die Sager sitzt sofort wieder aufrecht, die Hände artig am Laptop, die beiden anderen Frauen schweigen, der Halbtote feiert Wiederauferstehung, scheint aber momentan nicht mehr zu wissen, wo er sich befindet. Der Seminarleiter ergreift die Gelegenheit, den ersten Sitzungstag für beendet zu erklären und wünscht allen Teilnehmern einen schönen Abend. Thorwald reibt sich die Stirn, mit der er auf seinem Laptop aufgeschlagen ist und das Programm zum sofortigen Absturz gebracht hat.

 

Stühle werden gerückt, Fenster geöffnet, Zigaretten angezündet. Die Lebensgeister kehren zurück. Schiller ist nicht nachtragend und gesellt sich wieder an Thorwalds Seite. In einer Stunde soll es Abendessen geben. „Ich mache vorher noch einen kleinen Spaziergang,“ sagt Thorwald und Schiller stimmt sofort zu. „Gute Idee, ich warte in der Halle.“ Thorwald holt seinen Mantel aus dem Zimmer und verlässt das Gebäude über die Feuerleiter.

 

 

 

 

 

dritte Strophe

 

 

 

Draußen ist es kalt, doch die klare Luft tut gut. Nach wenigen Schritten über eine verschneite Wiese hat Thorwald den aus den Fenstern fallenden Lichtschein  verlassen und ist im Dunkel untergetaucht. Langsam schlendert er auf der Zufahrtsstraße den Hügel hinab Richtung Pleyenfeld. Er hofft, dass er in dem Dorf irgendwo ein Bier trinken kann, fernab von seinen Kollegen. Ein paar der Audis und BMWs überholen ihn und biegen auf der Hauptstraße Richtung Grenze ab. Sie wollen wohl schnell noch mal auf der anderen Seite billig einkaufen, Zigaretten und Spirituosen. Es sind nur ein paar Kilometer bis dorthin, wo früher die Welt tatsächlich endete. Für beide Seiten.

 

An der Kreuzung mit der Hauptstraße befindet sich ein hell erleuchteter Supermarkt mit einem großen, fast leeren, Parkplatz. Im vorbei gehen sieht Thorwald die breiten Gänge mit gefüllten Regalen, aber kaum Menschen. Die einzige Kassiererin sitzt gelangweilt hinter der Kasse. Er geht weiter, die Straße führt wieder leicht bergauf, zu dem Hügel, auf welchem eine von außen angestrahlte Kirche steht. Das Dorf schart sich dunkel darum herum, aber irgendwo wird es ja eine beleuchtete Hauptstraße geben, denkt Thorwald. Er irrt sich. Obwohl es gerade erst 18 Uhr vorbei ist, sind die Straßen leer und verlassen. Die Geschäfte sind geschlossen, ein Lokal hat Betriebsferien, eine Bar oder ein Bistro gibt es nicht.

 

Nach wenigen Minuten hat er das andere Ende des Dorfes erreicht. Ein paar neue Ein-Familien-Häuser, ein paar alte Bauerngehöfte, dahinter Felder, Wald. Er geht wieder zurück, sucht sich eine andere Straße, noch stiller und dunkler als die Hauptstraße. Selbst hinter den Fenstern brennt hier nur selten ein Licht. Früher haben sie Kerzen auf die Fensterbretter gestellt, für die Verwandten drüben, denkt Thorwald. Jetzt, wo diese tatsächlich gekommen sind, machen sie nicht einmal mehr Licht an. Einmal quert eine Katze seinen Weg, das einzige Lebewesen, das ihm begegnet. Plötzlich hört er Musik aus einem Haus. Jemand spielt Gitarre. Er bleibt vor einem Fenster stehen, wo schummriges Licht durch eine nur halbgeschlossene Gardine fällt. Was kann man hier abends machen, außer Kinder großziehen. Und was machen dann später die Kinder? Vielleicht Gitarre spielen, während die Väter sich vor dem Fernseher besaufen und die Mütter ihrer viel zu schnell vergangenen Jugend nachtrauern. Thorwald steht schweigend vor dem Fenster und lauscht der Musik. Es gefällt ihm, der oder die spielt gut. Er hat früher selbst mal Gitarre gespielt, in seiner Jugend, aber das ist schon lange her.

 

„He, was machst du denn hier? Wohl n Spanner, eh?“ quatscht ihn von hinten ein junger Mann an. Thorwald lächelt: „Nein, ich bin kein Voyeur.“ „Hab ich auch nicht behauptet, n Spanner bist du, eh? Was gibt’s denn da zu sehen?“ „Nichts, ich lausche der Musik.“  Der langhaarige Bursche, der so plötzlich aus dem Dunkel aufgetaucht ist, klopft gegen das Fenster. „He Pete, hier is so n feiner Pinkel, der sagt er lauscht deiner Musik. Bist n Plattenproduzent?“ „Nein, Kommunikationstechniker.“ „Ach so!“  Das Gitarrenspiel hat aufgehört, das Fenster öffnet sich und ein ebenfalls langhaariger junger Mann schaut heraus. „Das ist ein Komm....Bist n Kommunist, oder?“  „Bring ihn rein,“ sagt Pete vom Fenster aus, „da kann er die Musik besser hören.“ Das Fenster wird wieder geschlossen. „Hast de gehört? Wir sollen reinkommen. Das ist Pete. Er heißt Peter, aber wir nennen ihn Pete.“ „Gute Idee,“ sagt Thorwald und überlegt, ob er dem anderen eine rein hauen soll. Er tut es nicht und folgt ihm statt dessen in das Haus, ohne zu wissen, warum eigentlich. „Ich bin Johannes, für meine Freunde John,“ stellt der Bursche sich vor, dem Thorwald jetzt durch einen Hof zur Haustür folgt. Die Tür lässt sich ohne Schlüssel öffnen, es geht durch einen muffig riechenden Flur, hinter einer Tür rauscht eine Dusche, eine andere öffnet sich und Pete kommt ihnen entgegen. „Hier rein.“ Als alle drei in dem kleinen Wohnzimmer stehen, schauen die beiden Thorwald neugierig an, während er sich im Zimmer umschaut. Kein Raum für junge Leute, eher ein Großmutter-Wohnzimmer. Die Porzellanfiguren auf der Kommode passen besser zur Einrichtung, als die beiden langhaarigen Burschen. „Was machst du denn hier, so ein feiner Pinkel wie du? Magst du ein Bier?“ fragt Pete. Auf der Couch liegt zwischen gehäkelten Kissen die Gitarre. Auf dem Fünfziger-Jahre-Tisch stehen ein voller Aschenbecher und ein paar leere Bierflaschen. Erst jetzt bemerkt Thorwald den süßlichen Geruch, der mit dem Rauch den Raum ausfüllt. „Kannst auch n Joint haben,“ sagt John. „Ein Bier,“ erwidert Thorwald. Pete reicht ihm eine Flasche aus dem Kasten, der unter dem Tisch steht. Mit seinem Feuerzeug hat er vorher den Verschluss geöffnet. „Ich bin auf der Durchreise,“ sagt Thorwald und betrachtet ein großes Ölgemälde, welches eine Landschaft in den Alpen darstellt. „Prost,“ sagt Pete und die drei Männer stoßen mit den Flaschen an. „Interessierst du dich für Musik?“ „Nein, aber mir hat dein Spiel gefallen. Was war das?!“ „Selbst komponiert. Ich nenne es den Pleyenfeld Blues.“ „Von was handelt der Text?“ „Von dem was man hier in diesem lausigen Nest machen kann.“ „Und was kann man hier machen?“ „Nichts. Genau davon handelt das Lied. Es hat nämlich noch keinen Text.“ „Quatsch nicht, spiel,“ redet John dazwischen. Thorwald nickt. Pete setzt sich wieder auf die Couch und nimmt die Gitarre. Thorwald zieht sich einen Sessel heran und John sitzt auf einem Stuhl und dreht sich einen Joint.

 

Während Pete spielt, und er kann das wirklich gut, schaut Thorwald sich in dem Zimmer um und fragt sich, was die beiden eigentlich hier machen. Und er fragt sich auch, was er überhaupt hier macht, als sich die Tür öffnet und ein langhaariges hübsches junges Mädchen hereinkommt. Thorwald nimmt einen kräftigen Schluck aus der Bierflasche. Das Mädchen ist nackt, von ihrem Körper tropft noch das Wasser und mit einem Handtuch trocknet sie sich die langen dunklen Haare. Sie mag etwa achtzehn Jahre alt sein, denkt Thorwald, könnte meine Tochter sein. Warum läuft sie so hier herum? Die beiden Burschen scheint das nicht weiter zu interessieren. Pete spielt weiter seinen Pleyenfeld Blues und John zieht an seinem Joint und starrt in die Bierflasche. Das Mädchen schaut Thorwald an, während es zur Couch geht und sich neben Pete setzt. Thorwald versucht seinen Blick wieder auf die Gegenstände des Raumes zu konzentrieren.

 

Fast zehn Minuten spielt Pete, bevor er die Gitarre absetzt. Das nackte Mädchen sitzt noch immer neben ihm und raucht eine Zigarette. Der Teppich und die Couch sind etwas nass geworden, die Haut ist getrocknet. Eine makellose Haut auf einem schönen jungen Körper, wie Thorwald beiläufig festgestellt hat. „Das ist meine Schwester Anna,“ stellt Pete sie Thorwald vor. „Wie heißt du eigentlich?“ „Thorwald,“ sagt Thorwald. „Zieh dir was an, Anna,“ sagt Pete zu seiner Schwester und sie wickelt das Handtuch um ihren Körper. Dabei lächelt sie Thorwald an. Was will die von mir, denkt er. „Was machst du hier?“ fragt ihn Anna. „Ich bin nur auf der Durchreise,“ sagt Thorwald. „Ich habe eine Wagenpanne.“ „Du kannst hier pennen,“ schlägt Pete vor. „Das Haus ist leer.“ „Ist das euer Haus?“ „Gehört meiner Oma. Die ist aber nicht da.“ Thorwalds Blick liegt auf der großen Truhe, die in einer Ecke steht. „Wir müssen aber vorher noch mal weg. Kannst mitkommen. John hat auch ein Auto.“ „Wo kann man hier abends noch hin?“ fragt Thorwald und fügt in Gedanken hinzu: Außer in den Freitod. „Wirst schon sehen. Macht Spaß. Mädel zieh dir endlich was an, wir wollen los.“ Anna erhebt sich, schaut Thorwald lächelnd an und zieht das Handtuch auf dem Boden hinter sich her, während sie den Raum verlässt. Thorwalds Blick liegt auf ihrem Hintern, wie heute mittag bei Astrid Sager. Nur kurz stellt er sich vor, wie die Sager nackt durch das Hotel läuft.

 

John hat seine Jacke anbehalten, genau wie Thorwald seinen Mantel. Pete zieht sich einen Anorak über und auch Anna erscheint wieder, in engen Jeans und einer dicken Felljacke. „Trink aus,“ sagt Pete. „Es geht los.“

 

 

 

 

 

vierte Strophe

 

 

 

Thorwald weiß noch immer nicht, warum er bei den jungen Leuten bleibt. Ist es das Gitarrenspiel von Pete, oder ist es der Körper von Anna, den sie so freizügig zur Schau gestellt hat? Oder ist es die Langeweile nach einem anstrengenden Seminartag? Die Zeit für das Abendessen ist längst vorbei und Thorwald wird bewusst, dass er Hunger hat. Aber er ist auch neugierig, was junge Leute in diesem Dorf abends machen können. Sie steigen in einen viertürigen verrosteten Wagen, Thorwald und Anna sitzen hinten, John fährt mit durchdrehenden Reifen los. Keiner spricht ein Wort, das Radio wird aufgedreht, die Scheiben sind angelaufen. Thorwald kann nicht richtig erkennen, wo sie hinfahren.

 

Nach etwa einer halben Stunde stoppt John den Wagen vor einer Tankstelle. Vermutlich befinden sie sich auf der Hauptstraße zur Grenze, denkt Thorwald. Alle vier steigen aus. „Wartet hier,“ sagt Pete und verschwindet mit John in der Tankstelle. Anna setzt sich auf die Motorhaube des Wagens und steckt sich eine Zigarette an. „Da krieg ich einen warmen Hintern,“ sagt sie zu Thorwald und der nickt. „Willst du eine?“ Sie hält ihm die Zigarettenpackung hin. Er schüttelt den Kopf.

„Wo sind euere Eltern?“ fragt Thorwald. „He, bist du vom Jugendamt? Wir sind Volljährig.“ Die Tür der Tankstelle fliegt auf und Pete und John kommen herausgerannt. „Los, in den Wagen,“ schreit Pete und Anna springt von der Motorhaube. Thorwald schaut sich irritiert um. „Los rein,“ brüllt Pete noch mal, John sitzt bereits hinter dem Steuer, der Motor heult auf und Anna packt Thorwalds Hand. Beide rutschen auf den Rücksitz und der Wagen jagt Steine und Staub aufwirbelnd mit zuknallenden Türen davon.  Pete und John jubeln, Anna lacht und Thorwald wird langsam klar, dass sie soeben eine Tankstelle überfallen haben.

 

„Seid ihr wahnsinnig. Was habt ihr gemacht? Ich will raus hier.“ „Wo willst du hin,“ fragt Anna. „Es ist schon spät und es ist kalt draußen.“ „Egal. Ich habe mit euch nichts zu tun.“ „Erklär das mal der Überwachungskamera, die dich mit Anna bestimmt gut aufgenommen hat,“ sagt Pete lachend. „Wir fahren jetzt erst mal rüber, was Essen. Und zwar möglichst bevor die Grenzer benachrichtigt sind. Hast du deinen Pass dabei?“ Thorwald tastet unwillkürlich nach seiner Brieftasche. Er hat seinen Pass dabei und Anna hat ihre Hand auf seinem Bein liegen. Und in wenigen Minuten sind sie bereits ohne Probleme über die Tschechische Grenze gefahren. Die drei jungen Leute lachen und jubeln, Thorwald schweigt und überrascht sich dabei, wie er Annas Hand hält. „Wie viel war es?“ fragt Anna. „Sicher ein paar Tausend,“ sagt Pete. Es reicht für ein gutes Essen. Du bist eingeladen,“ sagt er dann noch sich zu Thorwald rumdrehend. „Aber fummele nicht an meiner Schwester rum.“ Thorwald fühlt sich ertappt und lässt sofort ihre Hand los.

 

Die erste Stadt hinter der Grenze ist nicht sehr weit. John parkt das Auto vor einem Restaurant der gehobeneren Klasse. Die beiden jungen Männer sehen zwar etwas abgerissen aus, aber Thorwalds eleganter Anzug und Mantel und die adrette Anna an seiner Hand, verschaffen ihnen mühelos Zutritt zu dem Lokal. „Wir wollen unseren Papi zum Geburtstag zum Essen einladen,“ erklärt Anna überflüssigerweise dem Kellner. So kurz hinter der Grenze wird auch Deutsch meistens gut verstanden. War ja mal Deutsch, denkt Thorwald. Anna hängt jetzt schwer an seinem Arm und strahlt ihn von unten herauf an. Sie ist einen Kopf kleiner als er. Wenn du meine Tochter wärst, dann könntest du was erleben, denkt er.

 

Die vier suchen sich einen Platz in einer Nische und bestellen dann das beste, was die Karte hergibt. „Macht ihr so was öfters?“ fragt Thorwald, der sich langsam wieder etwas beruhigt hat. „Du wolltest doch wissen, was man abends in Pleyenfeld machen kann,“ erwidert Pete. „Davon handelt der Pleyenfeld Blues. Willst du noch mehr sehen?“ „Noch mehr?!“ Thorwald hebt abwehrend die Arme. Anna sitzt neben ihm auf der Bank und berührt mit ihrem Oberschenkel sein Bein. Er rückt etwas ab. „Aber ein Joint wird hier nicht geraucht,“ sagt er zu John. „Is klar, Paps.“  Anna lacht.

 

Fast zwei Stunden sitzen sie bei mehreren Gängen, bis hin zur Nachspeise und Kaffee. Einige Flaschen teuren und guten Wein haben sie getrunken, Anna ist leicht beschwipst und lehnt sich immer wieder an Thorwald. „Wie kommen wir jetzt wieder über die Grenze?“ fragt Thorwald. „Kein Problem. Die suchen doch niemand der aus Tschechien kommt. Und jemand, der ins Ausland geflohen ist, fährt doch nicht am selben Abend wieder zurück,“  erklärt Pete und Thorwald muss zugeben, dass das einleuchtend klingt.  Als sie zum Auto gehen, hat Thorwald seinen Arm um Annas Hüfte gelegt und sie schmiegt sich an ihn. Auf dem Rücksitz schläft sie sofort ein und hat ihren Kopf auf seiner Schulter liegen. John und Pete rauchen und kümmern sich nicht um die beiden. Sie könnte meine Tochter sein, denkt Thorwald wieder, sie ist doch noch so jung. Dennoch hat er weiterhin seinen Arm um ihre Schultern liegen und seine Hand unter ihrem Pullover auf ihrer Haut. Sie trägt kein Unterhemd und keinen BH, stellt er fest. Anna lächelt. Das Luder schläft gar nicht, erschreckt Thorwald und zieht sofort seine Hand zurück. „Habt ihr eine Zigarette für mich?“ fragt er nach vorne und Pete reicht ihm eine. Er braucht das jetzt um sich zu beruhigen.

Anna lächelt immer noch, schläft aber jetzt tatsächlich ein.

Es ist fast Mitternacht, als John den Wagen in einem Nachbardorf von Pleyenfeld am Straßenrand, schräg gegenüber einer Lagerhalle stoppt. „Was habt ihr vor?“ fragt Thorwald misstrauisch. „Wir wollen nur was abholen. Du kannst im Wagen warten. Pass auf Anna auf, aber Finger weg.“ Pete und John steigen aus, öffnen noch kurz den Kofferraum und überqueren die Straße. Kaum sind sie hinter der Lagerhalle verschwunden, schlingt Anna ihre Arme um seinen Hals und küsst ihn auf den Mund. Thorwald ist so überrascht, versucht Anna von sich zu schieben, dabei drückt er versehentlich gegen ihre Brust, erschreckt greift er sofort nach ihren Schultern und schiebt sie zurück. Sein Gesicht ist nass von ihren Lippen. „Bis du verrückt geworden,“ brüllt er sie an. „Was fällt dir ein? Reiß dich zusammen, ich könnte dein Vater sein.“ Anna lacht. „Ich steh auf ältere Männer.“ Diese Formulierung gefällt Thorwald jetzt aber auch nicht. „Lass das nicht deinen Bruder wissen.“ „Das geht den doch gar nichts an.“ „Und euere Eltern?“ „Fängst du schon wieder an?“ „Was ist mit eueren Eltern? Lebt ihr alleine in Pleyenfeld bei der Oma.?“ „Mann, willst du unser Familienalbum sehen? Was ist mit deiner Frau? Warum ist sie nicht bei dir? Von wegen Autopanne und Durchreise? Bist du ein Schleußer? Ein Menschenschmuggler? Also hören wir doch auf, uns gegenseitig auszufragen.“ Annas Stimme ist laut geworden, während sie spricht, klingt auch nicht mehr betrunken, fast erwachsen. Thorwald ist erstaunt. „Entschuldige,“ sagt er und Anna lächelt wieder. „Ich mag dich,“ sagt sie leise. Er schweigt. „Magst du mich auch?“ fragt sie. Nach einem kurzen Schweigen sagt er: „Das geht nicht.“ „Alles geht,“ erwidert Anna, „siehst du doch.“

 

Pete und John kommen wieder zurück. Jeder trägt eine große Kiste, die sie im Kofferraum verstauen. „Habt ihr da eingebrochen?“ fragt Thorwald vorsichtig, als sie losgefahren sind. Pete lacht. „Wir haben nur was zu trinken geholt. Die Nächte sind lang und trocken, in Pleyenfeld.“ Thorwald schüttelt resigniert den Kopf. „Hast du noch Hunger?“ fragt Pete und Thorwald nickt, was Pete aber nicht sehen kann. Anna sagt ja. John steuert den Wagen in Richtung Supermarkt. „Nein, jetzt ist es aber genug,“ ruft Thorwald. Auf dem Hügel oberhalb des Supermarktes kann er die Lichter des Seminarzentrums sehen. Dort schlafen bestimmt schon alle. Und wer mit der Sager? „Was heißt genug. Wir brauchen noch ein Frühstück.“ „Und Erdnüsse mit Chips,“ meldet sich John erstmals zu Wort. „Ihr könnt doch nicht wegen ein paar Chips in den Supermarkt einbrechen?“  Pete sieht Thorwald erstaunt an. „Warum nicht?“ Thorwald schüttelt den Kopf. Sie wissen nicht, dass sie was unrechtes tun. Sie klauen sich den ganzen Abend zusammen, nur so zum Zeitvertreib und aus Langeweile. Aber sie halten es nicht für Unrecht. „Macht was ihr wollt,“ gibt er klein bei und rückt enger zu Anna, die sich sofort wieder an ihn schmiegt. „Macht doch was ihr wollt.“ Pete und John lachen. Mitternacht ist längst vorbei.

 

 

 

 

 

fünfte Strophe

 

 

 

Gegen halb zwei stellt John den Wagen wieder vor dem Haus in Pleyenfeld ab. Die beiden sind noch in das Lager des Supermarktes eingebrochen und haben alles für das Frühstück gestohlen. Dazu noch Lachs, Kaviar und tiefgefrorene Garnelen und John noch eine Kiste mit Erdnüssen und Chips. Zu viert tragen sie auch die Kartons aus dem Getränkelager in das Haus. Bier, Wein, Sekt, Cognac und Whisky. Alles steht dann kreuz und quer in dem altmodischen Wohnzimmer herum, Pete wirft jedem eine Flasche Bier zu, John verschließt die Gardinen richtig. Sie stoßen heftig mit den Flaschen an, das Bier schäumt über, alle vier lachen und trinken. „Spiel den Pleyenfeld Blues,“ sagt Thorwald, der das Spiel langsam begriffen hat.

 

Pete lacht und nimmt die Gitarre. John dreht sich einen Joint und Anna setzt sich auf Thorwalds Schoß.   Das Gitarrenspiel ist schön, aber zusammen mit dem Alkohol, dem süßlichen Duft des Rauches und der aufdringlichen Nähe Annas, beginnt Thorwald das alles zu Kopf zu steigen. Für einen Moment denkt er daran, dass er morgen früh wieder im Seminarzentrum sitzen muss und einen anstrengenden Tag vor sich hat. Aber das ist morgen. Anna zieht ihren dicken Pullover aus, trägt nur noch das dünne T-Shirt und ist barfuss unter den engen Jeans. Sie erhebt sich und tanzt zu der Musik ihres Bruders, ohne den Blick von Thorwald zu lassen. John öffnet eine Sektflasche und schießt mit dem Korken die Glühbirne kaputt. Es ist dunkel im Raum und Anna fällt wieder über Thorwald her, ist mit ihrem Mund wieder in seinem Gesicht, trifft in der Dunkelheit überall hin, seine Augen, seine Nase, seinen Mund. Er versucht verzweifelt, sie sich vom Leib zu halten, doch sie krallt sich wie eine Katze an ihm fest. Als sie seinen Mund gefunden hat, erwidert er ihren Kuss, so wie er schon lange keine Frau mehr geküsst hat. Und das hier ist ja noch ein Kind, schießt es ihm durch den Kopf. Ein Feuerzeug flammt auf, John zündet eine Kerze an, Pete spielt noch immer den Pleyenfeld Blues, scheinbar ein Musikstück von unbegrenzter Dauer. Durch das flackernde Kerzenlicht wird es wieder etwas heller im Raum und Anna, sichtlich überrascht von seiner Kusserwiderung, zieht sich etwas benommen von ihm zurück.

 

„Ich mache was zu Essen,“ sagt sie und wühlt in den Kartons. Sie reißt die Lachsverpackungen auf, wirft John ein Kaviar Glas zu und verschwindet mit den gefrorenen Garnelen aus dem Zimmer. John isst den Lachs direkt aus der Folie, den Kaviar mit den Fingern aus dem Glas und Thorwald folgt Anna in eine völlig verwahrloste Küche. Die Garnelen wandern in einen nicht mehr ganz sauberen Topf auf den Herd und Thorwald packt Anna an den Hüften und setzt sie auf den Küchentisch, mitten zwischen das schmutzige Geschirr. Teller fallen zu Boden, Flaschen fallen um und er schiebt ihr T-Shirt hoch und öffnet die Knöpfe ihrer Jeans. Sie hat ihre Arme um seinen Hals geschlungen, zieht ihm die Krawatte über den Kopf, das Jackett über die Schultern und reißt ihm das Hemd auf, dass die Knöpfe abspringen. Ihr Mund ist wieder in seinem Gesicht.

 

Das Gitarrenspiel hat aufgehört, fällt Thorwald plötzlich auf und im selben Moment sieht er Pete in der Küchentür stehen. „Lass sie los,“ schreit Pete und Anna krallt sich an Thorwald fest. „Hau ab,“ schreit Anna. „Du kommst jetzt sofort hier raus,“ brüllt Pete. „Ich mache was ich will,“ brüllt Anna über Thorwalds Schulter zurück. Pete stürzt sich auf die beiden. Wieder scheppert schmutziges Geschirr zu Boden und zerbricht. Thorwald hat Anna vor seiner Brust und Pete auf seinem Rücken hängen. Alle drei fallen zu Boden, als der Tisch zusammenbricht. „Ja bin ich denn bekloppt,“ flucht Thorwald, als die drei sich zwischen Scherben und Essenresten nebeneinander auf dem Boden wälzen. Anna lacht schallend, auch Pete beginnt zu lachen und schließlich stimmt Thorwald mit ein. John kommt herein, die Sektflasche in der Hand und fragt: „Wollt ihr was trinken?“  Die drei lachen noch mehr, John gibt ihnen die Flasche und holt den Topf mit den aufgetauten Garnelen vom Herd. Thorwald gießt Anna den Sekt über das Gesicht, weil sie vor lachen nicht trinken kann. Der Sekt läuft ihr über den Hals und das T-Shirt. Während John die Garnelen mit den Fingern aus dem Topf isst, leeren die anderen drei die Sektflasche auf dem Boden liegend.

 

Schwankend erheben sie sich irgendwann, Anna knöpft ihre Jeans wieder zu, Thorwalds Hemd hat keine Knöpfe mehr. Sie gehen zurück ins Wohnzimmer, wo inzwischen leere Lachsverpackungen und Kaviardosen, Bier- und Weinflaschen, zerrissene Chiptüten und ausgeschüttete Erdnussbeutel herumliegen. John ist auf dem Klo verschwunden und muss sich übergeben. Pete nimmt wieder die Gitarre und spielt den Pleyenfeld Blues, offensichtlich das einzigste Stück, das er spielen kann, das aber sehr gut. Anna und Thorwald tanzen. Später tanzt Thorwald mit Pete, während Anna auf der Gitarre herumklimpert und schließlich tanzen Pete und John. Anna und Thorwald liegen eng umschlungen auf der Couch, lassen sich sonst aber gegenseitig in Ruhe.

 

Hinter den schmutzigen Gardinen beginnt irgendwann der Tag zu dämmern. Nebel zieht über die Felder, leichter Schneeregen hat eingesetzt. Thorwald erwacht, auf der Couch liegend, Anna schläft noch, den Kopf auf seinem Schoß. Pete liegt auf der Erde, schläft ebenfalls noch und John liegt mit seinem Kopf auf Petes Bauch und schnarcht.  Thorwald erhebt sich langsam, nachdem er vorher vorsichtig und fast zärtlich Anna auf einem Kissen gebettet hat. Er sucht seine Schuhe, seine Jacke und seinen Mantel. Die Krawatte findet er nicht mehr. Er steigt über die Trümmer der vergangenen Nacht und verlässt langsam und leise das Haus. Vorher wirft er noch einen Blick auf die Gitarre, die auf dem Boden liegt. In seinen Ohren klingt noch der Pleyenfeld Blues, als er durch den Hof auf die Straße tritt. Er atmet tief durch.

 

 

 

 

 

sechste Strophe

 

 

 

Es ist fast acht Uhr, als er langsam den Hügel hinauf zum Seminarzentrum geht. Sein Kopf schmerzt, aber die kalte Luft tut gut.  Von weitem schon sieht er die Seminarteilnehmer vor dem Zentrum stehen, wo sie noch eine Zigarette rauchen oder etwas frische Luft schnappen, bevor die anstrengende Veranstaltung weitergeht. Er erkennt Astrid Sager, die neben dem Seminarleiter steht und raucht. Seit wann raucht sie? Ob sie die Nacht miteinander verbracht haben, überlegt Thorwald. Schiller steht da und redet mit dem Stillen, der Glatzkopf strahlt zwischen den beiden anderen Frauen. Und plötzlich verstummen die Gespräche, als sie Thorwald über den Parkplatz kommen sehen. Die Haare zerzaust, das Gesicht voller Lippenstift, Mantel und Jackett schmutzig, Rotweinflecken und Essensreste, das Hemd bis zum Gürtel offen und zerrissen. Alle schauen ihm entgegen, einige mit offenem Mund, sogar Schiller plötzlich sprachlos.

 

„Guten Morgen,“ sagt Thorwald. „Geht’s gleich weiter?“ Schiller findet als erster seine Sprache wieder. „Das ist ja interessant,“ sagt er. „Lassen sie mich raten. Ich würde....“ Thorwald ist stehen geblieben und Schiller will weiterreden, aber Thorwald kommt drohend auf ihn zu. Schiller geht rückwärts und fällt über den Papierkorb mit oben aufgesetzten und kippengefüllten Aschenbecher. Er liegt zwischen Papier und Asche im Schneematsch und Thorwald setzt seinen Weg zum Eingang fort. Die anderen treten unwillkürlich einen Schritt zurück.

 

Noch lange nach dem Thorwald im Gebäude verschwunden ist, stehen die anderen schweigend und betroffen herum. Schiller hat sich wieder erhoben und versucht seinen Anzug zu reinigen.

 

 

Mit einer halben Stunde Verspätung sitzen alle wieder im Seminarraum. Thorwald und Schiller haben sich umgezogen. Die Laptops sind aufgeklappt, der Projektor projiziert, der Referent referiert, Gläser klimpern, es plätschert, wenn Wasser eingegossen wird. Ab und zu werfen die Teilnehmer verstohlene Blicke zu Thorwald, jedoch keiner sagt etwas. Man ist zur Tagesordnung übergegangen.

 

Thorwald schaut wieder aus dem Fenster, auf den Weg über den verschneiten Acker, der große Strommast steht wieder schemenhaft im Nebel, doch statt der Reiter kommen auf dem Feldweg drei Gestalten auf das Gebäude zu. Thorwald sieht ihnen regungslos entgegen. Als der Referent etwas fragt, meldet sich Thorwald zu Wort, ohne die Frage verstanden zu haben. Er erhebt sich und sagt: „Frau Sager, sie haben einen tollen Arsch.“ Dann geht er langsam durch den Saal und verlässt ihn über die Terrasse. Er überquert die Wiese vor dem Haus und geht den drei Gestalten entgegen. Pete hat seine Gitarre umhängen und spielt den Pleyenfeld Blues, John hat eine Sektflasche in der Hand und Anna hält ihm seine Krawatte entgegen. „Du hast deinen Schlips vergessen,“ sagt sie. „Wir sind gekommen um dich zu befreien,“ sagt Pete und John reicht ihm die Sektflasche. Thorwald nimmt sie und trinkt. Dann legt er Anna seinen Arm um die Schulter und alle vier gehen langsam auf dem Feldweg in den Nebel davon.

 

Im Seminarraum stehen alle Teilnehmer in einer Reihe am Fenster und schauen hinaus.

 

 

 

 

 

„Das war der Pleyenfeld Blues,

ich hab das nicht gewollt, aber bei Gott, ich tues.

Ich spiel den Pleyenfeld Blues...“

 

   © helled-lyrik münchen 25./26.12.2003               

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